Abstract: Oskar Reichmann
Grundfragen historischer Lexikographie (mit Bezug auf die Werke Martin Luthers)
Geht man davon aus, dass der Zweck des Sprechens / Schreibens und damit der Sprache die Semantik ist, dann ist jede Linguistik der Semantik verpflichtet. Semantik würde dann als Orientierungszentrum auch für die ausdrucksbezogenen Gegenstände sprachwissenschaftlicher Forschung fungieren. Dies soll in meinem Beitrag angenommen werden. Dabei setze ich zwei Ebenen an: eine objektsprachlich-historische und eine gegenwartssprachlich-handlungspraktische. Bei ersterer Ebene geht es darum, dass ein heutiger Sprachteilhaber vor ihm liegende Texte einer historischen Zeit interpretiert, dann nach ihrer semantischen, pragmatischen und darauf zugeordneten textlichen Verfassung unter Einbezug ihrer kommunikativen Intention und Funktion linguistisch beschreibt; bei letzterer Ebene geht es darum, dass er dies mit dem Blick auf antizipierte Rezipienten vollzieht. Dies setzt eine Intention voraus, die weniger linguistisch-wissenschaftlich als interessegeleitet-handlungspraktisch ausgerichtet ist, d. h. meiner teils freien Entscheidung, meinem kulturpädagogischen Wollen unterliegt: Will ich (als Linguist) primär beschreiben (was eigentlich genau, Luthers Wortreichtum, seine lexikalische oder textliche Semantik, seine Rezipientenbezüge? und für wen eigentlich, für Sprachhistoriker, für sog. historisch Interessierte, für Theologen, für Glaubensfanatiker?)? Oder will ich als Sprachteilhaber z.B. zur Übernahme von Luthers Theologie aufrufen? Oder will ich Luthers Theologie in meine Zeit vermitteln, indem ich sie in einen neuen Weltentwurf einbaue, mich also als Zukunftsgestalter mit Bausteinen von Luther geriere?
Damit sind Fragen angedeutet, die bei der Arbeit an unserem Frühneuhochdeutschen Wörterbuch zum Tagesbetrieb gehören und die zur Entscheidung bei einem denkbaren zukünftigen Luther-Wörterbuch anstehen. Wie immer man im Einzelnen entscheidet: Es geht nicht um eine von der Weglassungsabstraktion gesteuerte relativ generische Semantik im Sinne von: frnhd. glaube ist nhd. Glaube, Zuversicht, Vertrauen, sondern um eine Differenzsemantik (im synchron frühneuzeitlichen und im diachron frnhd.-nhd. vergleichenden Sinne), um eine Semantik der Nuancen, um eine Verbindung von soziokognitiver und handlungsorientierter Semantik, jeweils in ihrer Zuordnung auf die Semantik von Texten und Texttraditionen, letztlich um eine Semantik, die uns als Alternative zur heutigen Semantik bewusst wird und damit zum Nachdenken und Handeln Anlass gibt.